Semiversus-Verfahren

Um die Winkel im sphärisch-astronomischen Grunddreieck zu lösen, hat man vor der Nutzung von Taschenrechnern und auch vor den amerikanischen Sight Reduction Tables PUB. 229/249 Berechnungen mit logarithmischen Tabellen durchgeführt.

Das Verfahren nutzt logarithmische Tabellen mit fünf Stellen hinter dem Komma und spielt heute auf Grund seiner Komplexität praktisch keine Rolle mehr.

Ich werde dennoch meiner Liebe der Astronomischen Navigation folgend der Vollständigkeit halber eine Einführung in diese Verfahren vorstellen – Du betrittst nun die nostalgische Ecke dieser Web-Seiten.

Es ist auch nicht besonders leicht, über dieses Verfahren Einzelheiten zu erfahren, da es auch in den heute erhältlichen Lehrbüchern der astronomischen Navigation nicht mehr behandelt wird.

In dieser Abhandlung werden auch ein paar mathematische Hintergründe mit beleuchtet, die nach intensivem Forschen und dem Studieren mehrerer Quellen herauszufinden waren.

Logarithmische Berechnung der Höhe

Aus den Vorbetrachtungen haben wir die Zusammenhänge sphärisch-astronomischen Grunddreick kennengelernt:

Aus dem Kosinus-Seitensatz

    \begin{equation*} \cos (c)\ =\ \cos (a)\cdot \cos (b)+\sin (a)\cdot \sin (b)\cdot \cos(\gamma ) \end{equation*}

leiten sich die Formeln ab:

    \begin{equation*} \sin (h)\ =\ \sin (\varphi)\cdot \sin (\delta )+\cos (\varphi )\cdot \cos (\delta )\cdot \cos(t) \end{equation*}

und als Zeitazimut

    \begin{equation*} \tan (Z)\ =\ \frac{-\sin(t)}{\cos (\varphi )\cdot \tan (\delta )-\sin (\varphi )\cdot \cos(t)} \end{equation*}

Diese Formeln, die uns heute im Zeitalter von Taschenrechnern und Computern natürlich keine Probleme mehr bereiten, waren vor 100 Jahren natürlich noch eine Herausforderung.

Da sollten Seeleute, die nicht alle studierte Mathematiker waren, aus Sinus und Kosinus mit Multiplikationen und Divisionen die Werte für die Wahre Höhe berechnen.

Schlaue Mathematiker haben sich dieses Problems angenommen und über Definition einer Hilfsfunktion sin² (a/2) einfachere Formeln gefunden, die unter Anwendung von überschaubaren Tafelwerken in einer absehbaren Zeit zu lösen waren.

Die verwendete Hilfsfunktion ist als Semiversus-Funktion in die nautische Mathematik eingegangen:

sem(a) = sin²(a/2)

Unter Anwendung der Semiversus-Funktion wurden unter Einführung von zwei Hilfsgrößen y und z und unter Anwendung der Lehrsätze der sphärischen Trigonometrie folgende Zusammenhänge gefunden:

sem(y) = sem(t) * cos(φ) * cos(δ)

sem(z) = sem(y) + sem(φ – δ)

h = 90° – z

Die nun noch auftretenden Multiplikationen von Zahlen mit fünf Dezimalstellen werden – nach gutem alten mathematischen Brauch – per Logarithmenrechnung auf Additionen reduziert.

Die Logarithmierung erfolgt auf der Basis 10. In den nautischen Tafeln werden die Werte aus praktischen Gründen um 10 erhöht.

Also z.B.

log cos (50°) = 10 + log10 (0,64278761) = 9,808067

log sem (70°) = 10 + log10 (sin²(35°)) = 10 + log10(0,3289899) = 9,51718

Bei Additionen dieser Logarithmenwerte sind jeweils die vielfachen von 10 wieder abzuziehen, so dass das Ergebnis auch nur der um 10 erhöhte Basiswert ist.

Tafelwerke

Hier stellt sich die Frage, welche nautischen Tafeln denn verwendet werden können.
Früher wurde hier in Deutschland gerne zu den „Fulst Nautische Tafeln“ gegriffen; dieses Werk wird jedoch schon lange nicht mehr aufgelegt und ist auf Buchhandels-/Antiquariats- und Versteigerungsplattformen gebraucht zu bekommen.
Mein „jüngstes“ Exemplar ist aus dem Jahr 1972.
Nach wie vor aufgelegt wird jedoch eine englische Ausgabe nautischer Tafeln, die „Norie’s Nautical Tables“, zuletzt im Jahr 2022 (Stand 2023).
Dieses Tafelwerk ist mit knapp 600 Seiten in etwa dreimal so umfangreich wie der Fulst mit seinen 220 Seiten.
Die Semiversus-Tabellen (die hier „Haversines“ heißen) haben dafür eine Winkel-Auflösung von 0,2′, während der Fulst sich mit vollen Winkelminuten begnügt.

Beispiel:

Es ist folgende Gleichung zu berechnen:

sem(x) = sem(30°) * cos(20°) * cos(40°)

Winkelfunktion Log Winkelfunktion normierte Log Winkelfunktion
10 + Log(Winkelfunktion)
sem(30°) = 0.066987298 -1.174007539 8.825992461
cos(20°) = 0.939692621 -0.027014184 9.972985816
cos(40°) = 0.766044443 -0.115746033 9.884253967
Summe der Logarithmen 28.68323224
– 20.0
sem(x) = 0.048220559 -1.316767756 8.683232244

aus sem(x) = 0.048220559 ergibt sich x=25.37011737 bzw. 25° 22,2′

Bleibt noch anzumerken, dass der Ortsstundenwinkel in diesen Berechnungen als halbkreisiger Winkel angesetzt wird;
das heißt ein Ortsstundenwinkel von 0° bis 180° ist ein westlicher Ortsstundenwinkel und wird mit dem Symbol tW dargestellt.
Ortstundenwinkel von 180° bis 360° werden – wie bei den Längengraden – von 360° abgezogen und als östliche Ortsstundenwinkel tE dargestellt.

Verfahren

Bestimmung der Grundgrößen

Zunächst werden – wie in jedem Höhendifferenzverfahren – die notwendigen Grundgrößen für die Berechnung der Höhe und des Azimuts bestimmt:

  • Ortsstundenwinkel t in halbkreisiger Form (tW oder tE)
  • Deklination δ
  • Breite φ

Berechnung der Höhe nach Semiversus

  1. Ermittlung des Semiversus des Ortsstundenwinkels und dessen Logarithmus nach nautischer Tafel (um 10 erhöht)
  2. Ermittlung des Kosinus der Breite und dessen Logarithmus nach nautischer Tafel (um 10 erhöht)
  3. Ermittlung des Kosinus der Deklination und dessen Logarithmus nach nautischer Tafel (um 10 erhöht)
  4. Summe der obengenannten Logarithmen A, B und C errechnen und 20 abziehen
  5. Entlogarithmiere nach nautischer Tafel
  6. Semiversus der Differenz Breite – Deklination ermitteln
  7. Bilde Summe von E und F
  8. Schließe vom Semiversus auf den Winkel der Zenitdistanz
  9. Ziehe die Zenitdistanz von 90° ab und erhalte die Höhe

Azimut mit ABC-Tafeln

Das Azimut eines Gestirns wird bekanntermaßen benötigt, um die Höhendifferenz-Standlinie zu zeichnen, kann aber auch zur Kompasskontrolle dienen oder das Auffinden eines Fixsterns/Planet erleichtern.

Auch das Azimut wird über Ortsstundenwinkel, Breite und Deklination berechnet kann über die ABC-Tafeln bestimmt werden.

Die ABC-Tafeln bestehen aus drei Teilen A, B und C, deren Hintergrund folgende Formeln bilden:

  • A = – tan(φ) / tan (t)
  • B = – tan(δ) / sin (t)
  • A + B = C = 1 / ( tan(Az) * cos (φ) )

Beim Entnehmen der Werte müssen die Vorzeichen berücksichtigt werden, die am Rand der Tafeln vorgegeben sind.

Tafel C liefert uns schließlich das Azimut – im Viertelkreisigen Format.

Tafel A

  • Eingänge sind Ortsstundenwinkel t und Breite φ
  • A wird negativ, wenn der Ortsstundenwinkel spitz, d.h. < 90° wird

Tafel B

  • Eingänge sind der Ortsstundenwinkel t sowie die Deklination δ
  • B ist positiv, wenn Breite und Deklination gleichnamig sind

Tafel C

  • Man bildet die Summe C=A+B und geht mit diesem Wert und der Breite φ in die C-Tafel
  • Dort findet man das viertelkreisige Azimut
  • Ist Summe C positiv, so ist das Azimut mit der Breite gleichnamig; ist C negativ, so sind Azimut und Breite ungleichnamig